Surfen in der Vergangenheit

Wie zarte Fenster in die Vergangenheit lassen Erinnerungen das Licht der Erlebnisse in unsere Seele fließen, während die Zeit unaufhaltsam voranschreitet und die Erinnerungen im Glanz der Unvergänglichkeit erstrahlen lässt.

SALAT AM HEILIGEN ABEND

SALAT AM HEILIGEN ABEND

Carmen Weins • Mainz

Unsere Eltern waren keine Kirchgänger, Papa sogar Atheist.

Er behauptete, dies sei so seit dem Zweiten Weltkrieg, wo er so viel Schreckliches gesehen habe, und ein Gott könne dieses nicht wollen.

Mama war sehr evangelisch (in ihrem Geburtsort im Rheinhessischen wurden die evangelischen Schmitts — wie sie selbst — mit „tt" und die katholischen Schmidts mit „dt" geschrieben, damit man die gravierenden Unterschiede ohne viel Aufhebens sofort erkennen konnte), aber nicht in dem Sinne von „fromm", sondern einfach nur evangelisch, quasi als besser, lieber, ehrlicher und freundlicher in Opposition zu „katholisch".

Wir vier Kinder Claudia, Sascha, Ines und Veronica hatten also grundsätzlich keine schwerwiegend christliche Erziehung genossen, lernten aber schnell im Laufe der Zeit: Was sein muß, muß sein!

Damit war das rituelle Befeiern des Heiligen Abends, und zwar nur des Abends, um ganz genau zu sein etwa drei bis vier Stunden dieses großen Abends, gemeint.

Trotzdem muß ich im Nachhinein sagen, daß das Chaos, die Tränen und die Verzweiflung, die diesen großartigen Stunden vorausgingen, einfach auch zum Ritual gehörten.

Der Tag begann damit, daß alle Familienmitglieder ganz sanftmütig am Frühstückstisch saßen, denn jeder wußte ja: Es lag etwas Hochheiliges, etwas Wunderbares in der Luft, und dieser Tag würde nicht ohne die meist langersehnten Geschenke vom Christkind zu Ende gehen!

Wir Kinder durften nach dem Frühstück den Baum schmücken.

Papa war dann, wie immer, sofort intensiv in seinem Arbeitszimmer beschäftigt.

Er war Lehrer und hatte permanent das Geschreibsel anderer Leute Kinder zu begutachten — so stellte es sich dem Rest der Familie jedenfalls dar.

Oder er mußte seiner Rolle als Schriftsteller gerecht werden, denn morgens fließen bekanntlich die besten Gedanken aus der Feder...

Mama war, schon leicht nervös, in der Küche und traf die allerersten Vorbereitungen für den Schmaus am Abend, den wir alle liebten, und den es, warum auch immer, nur an diesem einen Abend im Jahr gab, obwohl er denkbar einfach zuzubereiten und auch recht reisgünstig war:

Ein Salat, bestehend aus Nudeln, Fleischwurst, Erbsen und Karotten, Mayonnaise, Essig, Öl, Pfeffer und Salz, fertig!

Allerletzte Einkäufe wurden von uns Kindern getätigt, ein schnelles, kleines Mittagessen wurde e in den Magen hineingeschaufelt, denn das sofortige " Stopfen" der „Putt", dem herzhaften Mittagessen des nächsten Tages, folgte.

Diese „Putt" war immer so riesig, daß sie, über zwei Tage verteilt, geschmort werden mußte.

Und ungefähr just in dem Moment, als Mama gerade beim Würzen der Füllung war und mir, ihrer ältesten Tochter, dabei kurze, präzise Kommando zurief, klingelte es freundlich an der Haustür, „Ding-Dong", und eine liebe, ehemalige Schülerin, die eigentlich schon lange aus Mainz weggezogen war, aber natürlich gerade am Weihnachtsabend ihre alten Eltern hier besuchte, wollte und konnte es sich nicht nehmen lassen, ihrem verehrten Herrn Lehrer und dessen verständnisvoller Gattin persönlich ein frohes Fest zu wünschen und ihm dabei ein Fläschchen Wein zu überreichen.

Mama warf mir in der Küche verzweifelte Blicke zu, stieß ein Knurren aus, überschüttete mich mit weiteren Anordnungen und eilte dann, warmherzig lächelnd, in die Diele, um „Renate" oder „Dagmar" oder „Mechthild" mit ausgebreiteten Armen willkommen zu heißen.

Nach diesem etwa zweistündigen Besuch, bei dem unsere Mama wohlmeinende, aus ihrer reichen Erfahrungswelt als Ehefrau und Mutter stammende Ratschläge an die recht unerfahrene junge Frau verteilte und unser geschmeichelter Vater selbstverständlich die nötige Zeit zum Plauschen aufbringen konnte, ging es dann völlig hektisch weiter.

Mama wollte die verronnene Zeit aufholen, und weil sie merkte, daß dies tatsächlich nicht möglich war, überschlugen sich ihre Gemütszustände: Sie war dann übergangslos wütend, zornschnaubend und voller Selbstmitleid.

Dies ging an uns älteren Kindern, die ihr eigentlich helfen wollten, in der Tat nicht „spurlos" vorbei.

Trotzdem hielten wir tapfer durch, denn dieser Tag durfte Opfer fordern.

Papa kam gelegentlich aus seinem „Arbeitszimmer", wo er zwischendurch noch ganz wichtige Telefonate zu führen hatte, und fragte vorsichtig in die Küche: „Kind, ist alles in Ordnung?"

 Oder: „Kind, was ist denn los?" Oder: „Kind, klappt auch alles?"

Oft schien das „Kind" in Panik zu geraten, vor allem, wenn dann noch Nachbarn klingelten, um dem hocherfreuten Herrn Oberstudienrat ein fröhliches und gesegnetes Fest zu wünschen. — Dem „Kind" zu helfen, darauf kam der Pädagoge nie.

Irgendwann im Laufe des Nachmittags bruzzelte dann die „Putt" im großen „Kroppe" von unserem Opa Jakob, der in seiner besten Zeit als Schweinemetzger fünf Koteletts direkt hintereinander verspeisen konnte, was ihm im Alter dann sehr leid tun mußte.

Mama begann dann, sich zu besinnnen: -Ach ja, eigentlich ist ja Heiligabend.

Nun gut, befreit von den allerärgsten Nöten der Festvorbereitung, durften wir Kinder nochmals in unseren Zimmern üben, was wir unseren Eltern abends darbieten wollten und sollten.

Endlich dämmerte es, und alle vier Lehrers Kinder zogen erleichtert ab zum Gottesdienst in die kleine evangelische Kirche.

Ehrfürchtig hörten wir uns die Weihnachtsgeschichte an und lauschten den Auslegungen unseres Pfarrers Herrn Dr. Dr. Dr. Friedrich Kranz.

Insgeheim jedoch wünschten wir uns, daß es bald vor sein möge.

Erst wenn die Posaunen am Ende der Feierlichkeiten vor der Kirche hell und mächtig erschallten, wurde es uns so richtig heilig ums Herz.

Langsam drückten wir uns durch die Straßen in Richtung Heimat zurück, denn wir durften erst um eine gewisse Uhrzeit zu Hause sein und kein wenig eher, damit wir das Christkind nicht bei seiner schweren Arbeit störten.

Wir schauten mit klopfenden Herzen in jedes erleuchtete Fenster, betrachteten, bestaunten und bewunderten die vielen schon brennenden Kerzen auf den wunderschön, geschmückten Tannenbäumen.

Da waren Häuser, die schimmerten in der Abenddämmerung wie Edelsteine, so, als würden sie von innen heraus geheimnisvoll glühen.

Mit Herzklopfen stellten wir uns die vielen glücklichen Kinder darin vor.

Wir älteren hoben unsere jüngeren Geschwister über die Vorgartenmauem, damit sie an der Seligkeit dieses frühen Abends teilhaben konnten.

Die Atmosphäre auf diesem Nachhauseweg war etwas unwirklich, es lag eine Verzauberung, ein Glanz und eine Stille auf den vertrauten Wegen, als würden wir sie zum ersten Mal gehen.

Zu Hause angekommen, mußten wir natürlich nochmals nach oben verschwinden, denn das Christkind war noch beschäftigt.

Dann endlich ertönte das zarte, überirdische Gebimmel des Weihnachtsglöckchens, das Zeichen, daß wir mit unseren Vortragsutensilien herunterkommen sollten.

Wir schritten durch die geöffnete Salontür und fanden unsere Eltern erwartungsvoll und sehr wohlwollend lächelnd neben dem erleuchteten Weihnachtsbaum sitzen.

Mama zündete mit leichter Hand die Wunderkerzen an, deren brenzligen Geruch wir genießerisch einsogen.

Als Einstimmung auf den. großen Abend durften wir Geschwister dann abwechselnd Gedichte aufsagen.

Wenn man ins Stocken geriet, wurde einem sehr freundlich weitergeholfen.

Wir sangen auch, während Papa uns auf seiner „Klampfe" begleitete, gemeinsam Weihnachtslieder, wobei Mama stets am besten abschnitt, weil sie ganz viele Strophen noch aus ihrer Kindheit wußte.

Ines und ich flöteten so harmonisch wie möglich, und ich mußte, weil ich im Kirchenchor war und am längsten Latein lernte, «In dulci jubilo" singen.

Papa lächelte dazu sehr schelmisch.

Dann kam sein großer Auftritt: Aus einer sehr alten und sehr dicken, von seinem Großvater, dem Herrn Pfarrer, vererbten Bibel, las er auf lateinisch die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vor.

Und weil's so schön war, und weil ein Lateinlehrer so meisterhaft vortragen kann, folgte dann alles nochmals auf deutsch; aber selbstverständlich nur aus der Luther-Übersetzung.

Nun wurden wir Kinder unruhig und warfen uns Blicke zu: — Wie lange soll's noch dauern?

Der Zenit war überschritten, doch die freundlichen Eltern befanden sich in einer solchen Sangeslust, daß es für uns Kinder wie eine Ewigkeit schien, bis endlich die große, gläserne (aber nicht durchsichtige) Flügeltür zum Arbeitszimmer geöffnet wurde.

Sie hatte unsere Blicke schon lange vorher mit ihrem geheimnisvollen Inhalt in den Bann gezogen: Dort nämlich hatte das Christkind die Geschenke gelagert, für Kinder und Eltern, ausnahmslos.

Der Jubel von uns vier Kindern war für unsere Eltern bestimmt alleine schon eine «schöne Bescherung", und war es dem Papa gelungen, dem Christkind den entscheidenden, richtigen Tip für Mamas Geschenk zu geben, dann hatten wir vier Glück, und der Abend blieb noch wenige Stunden schön.

Hatten wir Pech, flossen viele Tränen seitens der Mama, die dann sehr lange Zeit vom Papa getröstet werden mußte.

Waren also alle getröstet oder froh oder umgekehrt, wurde dann später in meist heiterer Stimmung unser Nudelsalat bis auf das letzte Erbschen aufgegessen.

Hierbei durften die Geschenke gelobt und gepriesen werden.

Was dann folgte, war etwas ganz, ganz Besonderes, denn wir durften uns — nur allein an diesem Abend —, der ja an sich schon etwas Einzigartiges darstellte, eine Sendung im Fernsehen anschauen, nämlich -dich eine Weihnachtsgeschichte.

Fernsehen war ansonsten tabu für uns, schließlich gehörte dies zum Reich der Eltern.

Wir Kinder waren es gewohnt, allesamt um 20 Uhr ins Bett zu marschieren, zack, zack, und vielleicht noch ein paar Seiten in Lektüren lesen zu dürfen, die vorher von den Eltern geprüft worden waren.

Aber auch dieser Fernseher war eigentlich ein Bestandteil des Weihnachtsgeschehens, weil nämlich unser Papa ihn unserer Mama kurz vor Veronicas Geburt zum Heiligen Fest geschenkt hatte, damit sie es sich davor mit ihrem Kind im Bauch gemütlich machen konnte.

Für uns restliche Kinder war dieses großherzige Geschenk immer ein kleines Rätsel geblieben, denn der einzige, der ab dato dieses Gerät Abend für Abend in voller Sendezeit nutzte, war unser Papa...

Deshalb genossen wir nun die Geschichten von den reichen, bösen, hartherzigen Männern, die, noch rechtzeitig vor dem Fest, ihr Unrecht einsahen und sich radikal von „böse“ zu „gut" bekehren ließen, Szene für Szene, Dialog für Dialog, wobei wir Omas´s Plätzchen in uns hineinstopften und wußten, daß wir aus diesen Filmen wichtige Lehren für unser Leben zu ziehen hatten.

Da nun der Heilige Abend schon reichlich fortgeschritten und redlich abgearbeitet war, gingen wir ohne viel Aufhebens rasch zu Bett.

Sascha weinte manchmal noch ein wenig, weil er sein neues Spielzeug auf der Suche nach dessen Funktionalität auseinandergenommen hatte und es alleine nicht wieder instandsetzen konnte.

Auf Papas Hilfe konnte er ja nicht rechnen ... War die Oma da, tröstete sie ihn.

Sie war es dann auch, die zu jedem Kind ins Zimmer kam, ihm gute Nacht wünschte und die Türe leise schloß.

Mit einem samtigen Wohlgefühl räkelten wir uns in unseren Kissen und Decken und hofften schon jetzt auf die Wiederkehr des Christkindes im nächsten Jahr wegen seines unvergleichlich erfolgreichen Wirkens in unserer Familie -- Salat inbegriffen.