Von meiner Schwester Carmen, in der AZ Mainz im Februar 2015 veröffentlicht
Mainz, wie es singt und lacht
oder: die Metamorphose
Mainz in den 60er Jahren.
Höhepunkt des
gesellschaftlichen Lebens im Jahreszyklus: die Fassenacht.
Was allem die Krone aufsetzte, war die „Sitzung" im
Fernsehen am Freitagabend.
Geschäfte wurden früh geschlossen, ebenso Büros und
Betriebe.
„Die Sitzung" räumte
die Straßen leer.
Man besuchte Freunde, die schon einen Fernseher besaßen,um
diese einmalige Sendung dort zu erleben, die Vorfreude darauf war ungeheuer, an
diesem
Freitag gab es in der Stadt kein anderes Thema mehr. Eine
Kneipe mit Fernseher war eine gängige Alternative.
Mainz war im Ausnahmezustand, schon vier Tage vor dem
Rosenmontagszug.
Ich war Schülerin an einem" renommierten"
humanistischen Gymnasium; wir waren ganze sieben Mädchen in der Klasse.
Die überwiegend strengen Lehrer traten oft ziemlich
durchgeistigt auf und behandelten uns „von oben herab", oft spöttisch und
ironisch:
„Lange Haare - kurzer Verstand", wir wurden regelmäßig
„vorgeführt" als Beweis dafür, dass Mädchen weniger Grips haben als ihre
männlichen Klassenkameraden.
Mein eigener Vater unterrichtete dort auch und war wohl
recht beliebt bei seinen Schülern.
Wir wohnten in einem großen Haus in Gonsenheim nah am Wald.
Dieses Haus bot ein sehr geräumiges Wohnzimmer und darin befand sich - etwas diskret in einer Ecke - unser Fernseher.
So ergab es sich fast von alleine, dass Jahr für Jahr am
Nachmittag des besagten Freitags Sessel und Stühle um den langen, ausladenden
Tisch in Richtung Fernseher zurecht gerückt wurden.
Vorher war der Fernseher selbstverständlich „in
Position" gebracht worden.
Der Tisch wurde dann bestückt mit „Stängelchen",
Weingläsern, vielen Zigarettenpackungen, die ich vorher hatte ziehen dürfen und
jede Menge Aschenbechern.
Gegen Abend begann das Schauspiel: jede Menge gut gelaunter
Kollegen meines Vaters, also zumeist meine Lehrer, fanden sich ein, um den
besonderen Abend gemeinsam zu begehen.
Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.
Waren das wirklich die selben Männer, die mich vormittags so
einschüchterten?
Da saßen freundliche, wohlwollende, laut lachende, fröhlich gackernde,
alberne, sich auf die Schenkel klopfende, gesellige und humorvolle
Persönlichkeiten in unserem Wohnzimmer.
Sie kommentierten genüsslich die Pointen der Mutter aller
Sitzungen.
Sie qualmten ununterbrochen, tranken dazu Wein und waren
überaus heiter.
Ich dachte:
„Fassenacht, ich danke dir." und „Wäre doch nur immer Fassenacht!"
Ich durfte die Herren bedienen und genoss dabei die
großartige Stimmung — jedoch nur bis zum Samstagmorgen, an dem wir damals noch
Schule hatten.
Was dann folgte, war wie immer.
Diese Erinnerung hat sich bis heute bei mir angenehm
festgesetzt.