Surfen in der Vergangenheit

Wie zarte Fenster in die Vergangenheit lassen Erinnerungen das Licht der Erlebnisse in unsere Seele fließen, während die Zeit unaufhaltsam voranschreitet und die Erinnerungen im Glanz der Unvergänglichkeit erstrahlen lässt.

Ferien in Gimbsheim

 


Da meine Großeltern in diesem besinnlichen kleinen Dorf Gimbsheim lebten, war es für meine Eltern selbstredend, dass wir Kinder unsere Ferien dort bei ihnen verbrachten.

In den ersten Jahren, als mein Großvater noch lebte, waren es lediglich längere Besuche mit einer Übernachtung. Ich war noch nicht in der Schule und hatte daher auch keine Ferien.

Meine Schwester Carmen und ich hielten uns fast immer mehrere Tage bei meinen Großeltern auf.


Wir waren gerne bei ihnen, denn es war immer etwas Wunderbares, bei ihnen einige Tage verbringen zu dürfen.

Als mein Großvater noch lebte, fuhren wir gemeinsam mit ihm auf die Felder hinaus.

Mit einem Leiterwagen, vor dem ein Pferd gespannt war, fuhren wir zu den Äckern, die meine Großeltern bewirtschafteten.

Viele dieser Felder lagen direkt am Rhein.

Um sie zu erreichen, musste mein Großvater mit dem Leiterwagen über zwei vorgelagerte Dämme.

In diese waren Übergänge eingebaut, damit man das Rheinufer erreichen konnte.

Auch unser Nachbarn bestellte dort einige Felder.

Meinem Opa Jakob und unserem Nachbarn machte es immer sehr viel Spaß, ein kleines Wettrennen zu veranstalten.

Vor allem, wenn wir Kinder dabei waren und dann vor Freude jauchzten, wenn die Wagen über die beiden Dämme sausten.

Der Nachbar hatte ebenfalls einen ähnlichen Leiterwagen.

So stoben die Zwei mit ihren Leiterwagen nebeneinanderher, ähnlich einem römischen Kampfwagentournier nach dem Motto " Lass die Erde erzittern und spür' die Elemente“!

Dabei ist es zu einigen riskanten Situationen gekommen.

Ich erinnere mich, dass der Leiterwagen meines Opas beinahe samt Oma und uns Kindern auf der Kuppe des Dammes umgekippt wäre.

Mein Großvater wählte auf gut Deutsch eine Abkürzung und nahm nicht den normalen Dammübergang, sondern fuhr die steile Böschung mit Schwung hoch.

Nur mit Mühe erlangte er wieder die Kontolle über den Wagen und stabilisierte ihn.


Beim Wagen des Nachbarn war die Deichsel gebrochen.

Er war samt und sonders mit großem Eifer dem Opa so dicht auf den Fersen, dass er mit seinen Räden den Demarkationstein übersehen hat.

Ich erinnere mich, dass meine Großmutter außer sich vor Wut war und ich habe das erste Mal begriffen, dass sie das eigentliche Sagen hatte!

Auch mein Großvater habe ich das erste Mal sehr kleinlaut erlebt. 

Der kleine, dicke und sonst so couragierte und hitzige Mann hatte einen hochroten Kopf und war ganz still geworden.

Völlig zerknirscht fuhr er äußerst bedächtig weiter und war an diesem Tag unvergleichlich stark bemüht, sehr freundlich zu erscheinen.

Immer, nachdem wir am Acker ankamen, spannten meine Großeltern das Pferd vom Leiterwagen und banden es locker an einen Baum, Strauch oder Pfahl.

Wir Kinder schoben den noch unbeladenen Leiterwagen in die Mitte des Feldes.

Für uns Kinder war das ein großer Spaß und natürlich auch eine große Herausforderung, denn der Leiterwagen war bleischwer.

Im Anschluss ließen uns die Großeltern in dem näheren Umkreis spielen, aber immer in Sichtweite.

Zum Rheinufer durften wir nicht.  Dies war uns ausdrücklich verboten worden, da es viel zu unsicher gewesen wäre.

Meine Großmutter hatte immer eine Brotzeit mit dabei.

In einer großen, alten und zerknitterten Ledertasche zog meine Großmutter eine beigefarbene Thermoskanne hervor.

Darin war ungesüßter Pfefferminztee. Zum Süßen hatte sie in einer alten, spitzen Papiertüte Zuckerwürfel dabei. 

Meist hatte sie das Löffelchen zum Rühren des Tees vergessen. 

So benutzten wir dazu unsere schmutzigen Finger oder ein kleines Ästchen.

Dazu gab es reichlich frisches Brot, Butter, gekochte Eier, weißen Speck und Wurst in Dosen.

Die Wurstdosen gab es schon deshalb, weil mein Großvater Metzger war und seine eigenen Produkte mitnahm.

Er hatte einen kleinen Dosenöffner und öffnete genießerisch eine Dose nach der anderen.

Meist war es Blut- und Leberwurst.

Dazu gab es noch mittelscharfen Senf von meiner Tante Dina, die in dem Nachbardorf Eich wohnte.

Sie war in der dort ansässigen Senffabrik Streuber beschäftigt.

Eine große gemusterte Decke wurde ausgebreitet und so saßen wir Kinder bei unseren Großeltern, genossen gemeinsam die frische Luft und die wunderbare Urkraft dieser Rheinlandschaft.

Hin und wieder spielten auch noch andere Kinder in der Nähe. 

Mit diesen war es nicht mehr so langweilig und die Zeit verging wie der Wind während des Spielens.

Im Übrigen wurde von uns Kindern Geduld abverlangt, denn die Großeltern verbrachten mehrere Stunden auf ihren Feldern, um diese ausreichend zu bewirtschaften.

Da konnten wir so viel quengeln und maulen, wie wir wollten, es war zwecklos!

Erst nach abgeschlossener Arbeit ging es wieder zurück in das behagliche Bauernhaus meiner Großeltern.

Dort angekommen, spannte mein Opa als allererstes den Gaul (Pferd) vom Wagen ab. 

Das war ihm sehr wichtig. Zuerst das Tier versorgen, denn so ein Ackergaul war damals sehr kostbar und musste gehegt werden.

Schnell füllte er sogleich glasklares Wasser in einen großen Zinneimer.

Dazu benutzte er die mächtige Handschwengelpumpe, die am Rande unseres Hofes stand.

Mit Hilfe des langen Pumpenschwengels hatte er in nur wenigen Hüben den Eimer randvoll gefüllt.

Ich war mächtig beeindruckt, wie das Pferd den Eimer mit nur wenigen Zügen leer soff.

Später, in meinen Schuljahren kamen wir nur noch in unseren Schulferien zu unserer Großmutter.

Mein Opa war in der Zwischenzeit gestorben.

Als Bub begeisterten mich für die Hinterlassenschaften meines Opas total.

Ich stöberte stundenlang in den alten Utensilien meines Opas herum, zumal mir beteuert wurde, dass Opa mir alles vermacht hätte.

Das sollte mich trösten, denn ich war von Opas Tod noch sehr niedergedrückt.

Die interessantesten Sachen befanden sich in der Scheuer hinter dem Haus.

Dort waren die ehemaligen Stallungen.

Auch die kompletten Gerätschaften, welche mein Großvater sowohl zum Schlachten der Schweine als auch zum Bestellen der Felder benötigte, waren in der Scheuer aufgehoben.

Meiner Oma war es sehr recht, wenn ich mit Opas alten Sachen herumwühlte. Ich war schließlich sein Enkelchen und sie war sich sicher, dass dies in seinem Sinne war.

Unter anderem spürte ich dort Äxte und Beile auf.

Aber auch zwei riesige Schleifsteine, welche mit einem Fußpedal angetrieben wurden, fanden meine Beachtung.

Die Schleifsteine waren in einer gusseisernen Wanne eingelassen. Diese wurden mit Wasser zur Hälfte befüllt. So war es möglich, die Messer und die Äxte nass zu schleifen.

Die Schleifsteine hatten eine unterschiedliche Körnung.

So konnte man vorschleifen und feinschleifen, das hatte ich schnell herausgefunden.

Das fand ich alles fabelhaft und Omas Messer waren von diesem Zeitpunkt an immer rasierklingenscharf.

Am Scheuertor hingen noch lange Streichriemen aus Rindleder zum Schärfen von Schlacht- und Rasiermesser.

Zunächst wusste ich nicht, was sie bedeuteten. Dann sah ich es bei einem anderen Metzger.


Meine Oma sah mir dabei vergnügt zu, schüttelte ab und zu lachend den Kopf und verschwand wieder im Haus.

Für mich war diese Scheuer das Land der Erfüllung.

 Mit anderen Worten, ich hielt mich den ganzen Tag dort, in Opas Scheuer, auf.

Es gab immer etwas Neues zu entdecken. Entweder war es ein Werkzeug, große Hufnägel, alte Reiterstiefel, eine beeindruckende Lederjacke oder die von Staub überzogene Leder-Batschkapp meines Opas.

Die Peitsche, das Kummet, der Leiterwagen, Mistgabeln, ein Holzheurechen mit langen Holzzähnen, Sensen und Handsicheln, riesengroße Futtertröge aus Ton, Butterfass, alte rostige Eisengewichte, Ketten…alles war spannend und attraktiv.

Seitlich, oberhalb in der Scheuer, war in 3- 4 m Höhe noch ein ca. 4 m breiter Absatz eingebaut.

Man konnte ihn nur über eine lange, wackelige Holzleiter erreichen.

Dort oben war das Strohlager.  Im Anschluss an den Absatz überspannten im Abstand von ca. 50 cm Holzbalken die gesamte Scheuer.

Das war der Lagerplatz für das Heu, welches dort luftig verteilt worden war.  Es wurde als Winterfutter für die Tiere benötigt.

Oftmals turnten wir Kinder auf dem Heu herum, unbewusst, welche Gefahren der hohle Untergrund barg.  Aber es ist nie etwas passiert.

Dort oben gab es Mäuse und natürlich, wo Mäuse sind, nisteten auch unsere Katzen.

Für diese war dort das ideale Versteck, um ihre Jungen vor Gefahren zu schützen und großzuziehen.

Kamen diese armen Kätzchen in die Hände der Erwachsenen, wurden sie erbarmungslos umgebracht.

Das war für und Kinder extrem widerwärtig!  

Die Art und Weise, wie die Kätzchen getötet wurden, war sehr abstoßend und kaltherzig.

Die Tötung selbst war aber wohl notwendig. 

Sonst hätte das Dorf innerhalb kürzester Zeit unter einer gefährlichen und krankheitsbringenden Katzenplage zu leiden gehabt.

Damals war die Pharmazie noch in den Kinderschuhen und einer Epidemie hätten die Menschen relativ hilflos gegenübergestanden.

Das war uns Kindern völlig egal und so versteckten wir die jungen Kätzchen noch raffinierter.

Ich fand unter den Werkzeugen meines Großvaters auch noch den Bolzenschussapparat. 

Daneben lagen noch jede Menge Patronen, die für die Entladung des Apparates vorgesehen waren.  

Postwendend habe ich den Apparat am Scheuertor getestet und den Bolzen mit einem lauten Knall in das weiche Holz getrieben.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses und an der Seite des Hofes befand sich noch ein kleiner nachträglicher Anbau.

In ihm war die sogenannte Wurstküche untergebracht.

Diese war ebenso sehr interessant.


Ein großer Tisch nahm fast die ganze Küche ein. In der Mitte, unter dem Tisch, befand sich eine riesige Schublade.

Da waren noch viele Schätze meines Großvaters verborgen.

Kleine Schleifsteine, kleine scharfe Messer, Rasierklingen, Schnüre, Bleistifte, Taschenmesser, Brillen und jede Menge Registrierhefte.

Ein Kartenspiel, verschiedene Kleinwerkzeuge, wie Schraubenzieher, Kombizangen, Hammer und Beißzangen, alles befand ich in dieser unergründlichen Schublade.

Auch eine Dosenverschließmaschine entdeckte ich in einer Ecke. 

Diese wurde von mir gleichfalls eingehend getestet.

Leere Dosen standen zur Genüge zur Verfügung, etwas Sand hinein und Deckel drauf.

Sodann habe ich das Wort „Leberwurst“ in ein dafür vorgesehenes Feld in die Dose geritzt.

Die Dose habe ich heimlich da und dort unter ein Hoftor geschoben.

Im Stillen lachte ich mich halb tot bei dem Gedanken, welche Gesichter die Leute wohl machten, wenn sie die Dose öffneten und nur den Sand darin fanden.

Dann stand da noch die gewerblich gediente Wurstschneidmaschine! 

Sie wurde noch mittels einer Kurbel angetrieben, hatte eine rasierklingenscharfe Scheibe und gehörte fortan auch zu meinem wertvollsten Bestand.

Ich war sehr verärgert, als sie eines Tages verschwunden war und mir meine Großmutter mitteilte, dass sie diese einem befreundeten Metzger kostenlos übergeben hatte. 

Der hätte danach gefragt und gutherzig wie sie war…Naja!

Obwohl ich noch ein kleiner Junge war, empfand ich dies als Affront gegen mich, ja, als Enteignung. 

Denn, so wurde mir bislang erklärt, Opa hätte alle seine persönlichen Sachen mir vermacht.

Es dauerte durchaus eine gewisse Zeit, bis ich das meiner Oma verziehen hatte.

Es gab noch einige Waagen, unter anderem eine mächtige Balkenwaage.

Wir Kinder nutzten sie, um uns selbst zu wiegen.

Nach Opas Tod hatte Großmutter in dem ersten Jahre noch einige wenige Tiere.

Nach und nach verkaufte sie auch diese und übrig blieben nur noch ein paar Hühner.

Zu Beginn der Ferien bei meiner Großmutter habe ich stets die ganze Scheuer auf den Kopf gestellt und dabei jeden Winkel neu erforscht.

Erst nachdem ich mir genügend Überblick verschafft hatte, kontaktierte ich meinen Nachbarsfreund. Dieser hieß Werner und war sozusagen mein Ferienfreund.

Meistens wartete er schon gespannt darauf, dass ich wieder einige Wochen bei meiner Großmutter verbringen würde.

Es war auch für Werner immer ein schönes Erlebnis, wenn ich da war.

Wir beide waren gleichaltrig, ich war aber der ältere, genau um einen Monat.

Das war aber bedeutsam, denn danach richtete es sich, wer von uns beiden Chef war!

Wenngleich Werner ein Kind Gimbsheims war, zählte das für mich nicht, auch wenn er es noch so oft betonte. 

Immerhin war ich der Enkel des anerkanntesten Metzgers, der je in Gimbsheim gelebt hatte. 

Es mangelte mir nicht an Selbsbewusstsein.

Wir beide spielten sehr viel miteinander und die Familie von Werner war immer sehr liebenswürdig zu mir.


Besonders seine Mutter Frida war sehr fürsorglich und warmherzig.

Die Familie Kleist waren Flüchtlinge aus Sudetendeutschland.

Werner hatte zwei Omas, die ihn, da er ein Einzekind war, sehr behätschelten und ihm immerzu Geld zusteckten.

Verstehen konnte ich die zwei uralten Weiber nicht, ihr sudetendeutsch war für mich völlig undefinierbar, genauso wie das Genuschel von Werners Vater.

Das war ein knochiger, sehr einsilbiger Mann mit einem etwas mürrischen Blick.

Dennoch habe ich ihn gemocht, denn entgegen seiner schroffen und harschen Ausstrahlung war er ein sehr freundlicher und gutmütiger Mensch.

Die Familie Kleist hatte ihren kleinen Bauernhof genau uns gegenüber auf der anderen Straßenseite.

Leider war es in der Zwischenzeit auf dem Hof meiner Großmutter still geworden. 

Sie besaß keinerlei Tiere mehr und das Leben auf dem Hof ist nahezu zum Erliegen gekommen.

 Auf dem Hof der Familie Kleist war das genaue Gegenteil der Fall.

Im Stall noch standen Kühe, die stundenlang gemütlich das Heu wiederkäuten und Pferde, die in ihren Gattern standen und mit den Ketten rasselten.

Ab und zu hörte man sie wiehern, vor allem, wenn sie Durst hatten.

Das Gerassel der Ketten, mit denen die großen Tiere gesichert waren, ist mir heute noch im Gedächnis.

Auch das Schnauben dieser mächtigen Tiere ist mir noch im Ohr.

Sie standen zur Wand, wo auch ihr Futterkorb befestigt war.

Infolgedessen konnten sie aber auch nach hinten austreten, wenn sie zusammenfuhren, weil wir unvorsichtig an ihnen vorbeirannten.

Deshalb schlichen wir uns sehr vorsichtig hinter den nervös scharrenden Tieren vorbei.

Der Stall war stickig und schwülwarm, denn die Tiere strahlten eine eigene erstaunliche Wärme aus.

Ihre Hinterlassenschaften wurden erst abends weggefegt und daher roch es streng nach Urin und Ammoniak.

Die unzähligen Fliegen belästigten die Tiere, die durch fortwährendes Wedeln mit ihren Schwänzen diese Quälgeister vertreiben wollten.

Sie ließen ihre Felle zucken und jedes Mal flog dann ein Schwarm Fliegen auf und setzten sich Sekunden später wieder auf die gestressten Tiere.

Immer um die gleiche Uhrzeit fingen die Tiere an laut zu brüllen.

Dieses laute, tiefe und einschüchternde Gebrülle ermahnte uns Kinder, rechtzeitig den Stall zu verlassen.

Die sonst sehr friedlichen Tiere waren jetzt aufgeregt und wurden unberechenbar.


Mit großen Kübeln eilten flugs die Erwachsenen herbei und versorgten die Tiere.

Anschließend wurde der Stall ausgemistet und wir Kinder haben dabei gerne und eifrig mitgeholfen.

Mit Gummistiefeln und Mistgabeln ausgerüstet warfen wir den schweren, mit Kot und Urin durchtränkten Mist auf den dafür vorgesehenen Misthaufen.

Unter diesem befand sich eine große Zisterne, wo sich Kot und Urin sammelte.

Diese braune Gülle (Puddelbrühe) wurde unter beißendem Gestank einige Male im Jahr abgepumpt.

Das Ganze wurde mit einem großen, auf einem Leiterwagen festgebundenen Holzfass, dem Puddelfass, auf den Feldern verteilt.

Eigentlich ist das Verfahren heute noch das Gleiche, nur damals waren es wesentlich kleinere Mengen.


Von einer Massentierhaltung war noch keine Rede.

Familie Kleist hielt auch noch Schweine, Hühner und Hasen.

Das Nonplusultra des Hofes war allerdings der total neue Traktor mit seinem modernen Anhänger.

Diesen fortschrittlichen Anhänger nannte man nicht mehr Wagen, sondern dies war eine „Rolle“. 

Denn er hatte keine Holzspeichenräder mehr, die laut über die Pflastersteine klapperten. 

Sie war flüsterleise mit den Gummireifen.

Herr Kleist ließ uns Buben hin und wieder mit dem Traktor fahren.

Das war für ihn eine Erleichterung, denn so fuhren wir den Traktor immer an die Stelle des Feldes, wo er es gerade bewirtschaftete.

So musste er seine Arbeit nicht unterbrechen und konnte immer direkt mit dem Aufladen der Ernte beginnen.

Ja, das war für uns Verantwortung und Abenteuer schlechthin!


Sowieso waren wir zwei Buben sehr viel zusammen.

Aus diesem Grunde hatten wir auch sehr viele Mätzchen im Kopf und machten sehr viel Unsinn.

Dabei kam es ab und zu auch zu Wunden, die wir uns in unserem Übermut zugezogen hatten.

Ich erinnere mich noch, dass ich mich durch ein misslungenes Kunstückchen auf einem alten Fahrrad verletzte.  

Dabei war ich gestürzt und hatte mir das Ritzel des Kettenblattes in den Oberschenkel gerammt.

Zum Entsetzen meiner Großmutter, der ich stolz die klaffende Wunde vorführte.

Sie hatte mich umgehend zum Dorfarzt befördert.

Der lachte indessen nur kurz, bestrich die Wunde mit Jod, was entsetzlich brannte und klammerte sie mit einem großen Pflaster.

Oftmals fuhren wir zwei Buben zum Rhein.  

Das war zwar verboten, meine Großmutter und Werners Mutter hatten es uns wirklich ausdrücklich untersagt.

Jedoch spielten solche Verbote für uns überhaupt keine Rolle.

Die Landstraße führte uns schnurgerade zum Rhein.

Mit dem alten Fahrrad meines Großvaters erreichten wir den großen Fluss, nachdem wir noch zwei Dammübergänge passiert hatten.

Zwischen den beiden Dämmen befand sich der Dorfteich.

An seinen Ufern hielten wir uns auch gerne auf.

Auch das war uns eigentlich strikt verboten! 

Denn, so erzählte man sich damals, der Teich sei unterirdisch über ein Tunnelsystem mit dem Rhein verbunden.

Ab und zu seien dort schon sehr gute Schwimmer ertrunken. 

Sie hätten sich in den Schlingpflanzen des Teiches verheddert, wären untergegangen und später im Rhein wieder aufgetaucht!

Da das Fahrrad meines Großvaters ein große 28 Zoll Herrenrad war, musste ich umständlich, schräg und unterhalb der Längsstange, das Pedal betätigen.

Das Fahrrad mit der Länsstange war noch zu hoch für mich und meine noch zu kurzen Beine.

Nach dem Abstecher am Teich fuhren wir beide weiter zum Rheinufer, um dort mit langen Weidenstöcken angeln zu gehen.

An den Weidestöcken hatten wir Schnur und selbst gebastelte Haken befestigt.

Als Schwimmer (Pose) haben wir Weinkorken verwendet.

Einen Fisch haben wir nie gefangen, aber darum ging es uns eigentlich auch gar nicht.

Vordringlich war nur das Abenteuerliche dieses Unterfangens.

Genau vis-à-vis unseres Angelplatzes stand die alteingesessene Rheingaststätte, Willius, welche in früheren Zeiten auch einen kleinen Fährbetrieb innehatte.

Dort konnten wir uns immer etwas zu essen und trinken holen.

Der Rhein selbst hatte eine starke Strömung.

Ohne Umweg in Kauf zu nehmen, konnten wir unmöglich direkt von der Rheinböschung aus zum Schwimmen in den Fluß einsteigen.

Es gab zwar vereinzelt Treppen, die zum Wasser hinunter führten, aber auch von dort war das Einsteigen in den reißenden Fluss sogar für gute Schwimmer sehr riskant.

Um im Rhein zu schwimmen, benutzte ich eine Ausbuchtung, die sich  seitlich vom Fluß wie ein kleiner See etwa 50 m in das Gelände einfalzte.

Sie war von Bäumen und Buschwerk eingesäumt.

In das Wasser dieser schönen Ausbuchtung führt eine breite, rote Sandsteintreppe hinunter.

Die unterste Stufe war stark veralgt und daher sehr glitschig.

Man musste achtgeben, nicht mit einem Schwung in das flache und klare Wasser zu rutschen.

Das Wasser stand an diesem Einstieg still und man konnte entspannt einsteigen.

Langsam schwamm ich in die Richtung des Flusses, wo mich bald eine leichte Strömung erfasste und automatisch entlang des Rheinufers trieb, immer in sicherer Erreichbarkeit des Ufers.

So trieb ich einige 100 Meter bis an eine Stelle, an der ein rostiges Geländer in den Fluss ragte.

Dieses Geländer war leicht zu erhaschen. 

Ich hangelte mich daran zu der dazugehörigen Treppe, die in die Flussböschung eingebaut war.

Barfüßig musste ich nun am Uferrand zwischen Brennnesseln und Hecken zurücklaufen, was sehr unangenehm war.

Ich war ein guter Schwimmer im Gegensatz zu Werner, der noch überhaupt nicht schwimmen konnte.

Deshalb hielt er nur seine Füße in das Wasser und das war auch gut so!

Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, meinen Freund zum Schwimmen zu überreden oder vor ihm zu prahlen. 

Vertrauen war Ehrensache.

Meine Großmutter bemerkte natürlich meine zerschrundenen Füße und wusste sofort, wo ich war.

Mir war damals nicht bewusst, welche großen Sorgen sie sich machte.

Immerhin hatte die arme Frau die ganze Verantwortung über diesen wilden Jungen und es wäre für sie furchtbar gewesen, wenn mir ausgerechnet wärend des Aufenthalts bei ihr etwas zugestoßen wäre.

Ich glaube, meine Oma war teilweise gelähmt vor Angst und Panik.

Sie war wohl heilfroh, wenn ich wieder von meinen Eltern abgeholt wurde.

Dann konnte sie sich wieder erholen und ihr Leben wurde wieder ruhiger.

Dennoch war sie immer wieder froh gestimmt, wenn ich zu ihr kam, um meine Ferien bei ihr zu verbringen.

Es war immer großartig bei meiner Großmutter.

Wenn wir abends zu Bett gingen, schliefen wir, Seite an Seite, im ersten Stock im großen Ehebett des alten Schlafzimmers.

Mein Teil des Bettes war die Seite, wo Opa früher schlief.

Dort hatte sich in der Mitte der Matratze eine große Kuhle gebildet, diese war durch den Hintern meines Opas geformt worden.  

Es war immer einer der schönsten Momente, wenn Oma mit mir am Abend zu Bett ging.

Im Winter spendete mir Oma noch eine kupferne Wärmflasche, die sie mit einem Handtuch umwickelt hatte, damit ich mich nicht verbrenne.

Dann fing sie an, mir Geschichten und Erlebnissen von Großvaters Jugendjahren zu erzählen.

Das war immer sehr spannend, denn mein Großvater hatte wohl in seiner Jugendzeit einen sehr lebenslustigen Charakter.

Die Erlebnisse und Geschichten seiner Jugend wollte ich nun haargenau wissen.

Die Atmosphäre in diesem kleinen Bauernhaus war einzigartig.

Ich habe das Haus ja schon in einer meiner anderenErinnerungen beschrieben.

Morgens kam ich zum Frühstück.

In der Küche hatte Großmutter schon den Tisch gedeckt und es gab frisches Bauernbrot, Butter, Apfelgelee, Blut- und Leberwurst und ein gebackenes Spiegelei (Kuhauge).

Dazu reichte sie noch frische Milch und Carokaffee. Später erweiterte Oma das Frühstücksrepertoire durch „Kaba“.

Nach dem Frühstück fuhren wir beide mit einem kleinen Hand-Leiterwägelchen in die Felder, die Oma mühevoll bewirtschaftete.

Ich durfte mich in den Leiterwagen setzen und meine Oma zog mich.  Was ein Spaß!

Abends, wenn wir wieder zu Hause waren, holte meine Großmutter noch frisches Brot und Wurst und wir nahmen gemeinsam das Abendbrot ein.

Nach dem Abendbrot legten wir uns immer nebeneinander auf eine Couch.

Diese stand auch in der Küche. Am Kopfende der Couch war ein kleines Tischchen, darauf ein altes Dampfradio.

Nun suchten wir auf der Mittelwellenskala des Radios nach dem richtigen Sender.

Es pfiff und rauschte wirr beim Sendersuchen.

Erst nach einiger Zeit, mit viel Geduld und sorgfältiger Feinabstimmung, war der Sender klar zu hören.

Allerdings nur so lange wie wir uns nicht unnötig bewegten.

Denn sofort war wieder das Rauschen und Pfeifen zu hören und wir mussten mühevoll nachjustieren.

Das geschah meistens ausgerechnet an einer der spannendsten Stelle des Hörspieles.

So verharrten wir beide geduldig eine Stunde lang, Seite an Seite und hörten mit Hingabe zu. 

Es waren fast immer spannende Krimis.

 Oft tranken wir noch ein herzlich süßes Likörchen dazu.

 Ich liebte meine Großmutter sehr.

Zum Ende der Ferien hin, kurz bevor ich von meinen Eltern abgeholt wurde, bekniete ich sie noch kleinlaut und fortwährend, meinen Eltern auf keinen Fall von meinen Schandtaten zu erzählen.  

Meine Großmutter hat das, wohlwissend der Konsequenzen, die mich erwartet hätten, nie getan.

Auch als Jugendlicher bin ich noch mit Begeisterung zu meiner Großmutter gegangen.

Zu Werner hatte ich noch lange Kontakt.

Werner hatte zwischenzeitlich ein Moped. 

Ich meinerseits konnte das alte Moped meines Onkels Dieter benutzen, welches er im leerstehenden Stall meiner Oma verwahrte.

Es war eine alte Miele und wir beide, Werner und ich, fuhren mit unseren Mopeds über die geteerten Feldwege zu den anderen Nachbardörfern.

Meistens begegneten wir noch anderen Jugendlichen, die ebenfalls mit ihren Mopeds unterwegs waren.

Gemeinsam sausten wir dann mit knatterndem Getöse auf den Feldwegen um die Dörfer herum.

Es machte ein Heidenspaß und es war niemand da, der auf die Idee gekommen wäre, uns Einhalt zu gebieten oder gar nach Führerschein oder Fahrerlaubnis zu fragen.

 
Keines der Mopeds hatte ein Nummernschild oder war angemeldet.

Es war für die Dorfbewohner ganz normal und selbstverständlich, dass wir Buben mit den Mopedchen auf die Felder fuhren, um uns dort auszutoben.

Ab und zu fuhr ich auch selbst von Mainz mit dem Fahrrad zu meiner Oma, um sie zu besuchen.

Natürlich verbrachte ich dann auch einige Tage bei ihr.

Es war ein warmer Ferientag, etwa Mitte der 60er Jahre, als ich kurzerhand den Entschluss fasste, zu ihr nach Gimbsheim zu fahren. 

Dort wollte ich noch die letzten Ferientage verbringen.

Ich sagte geschwind meinen Eltern Bescheid, packte das Nötigste in meine Satteltaschen und fuhr über die Landstraße (B9) direkt zu meiner Oma.

Bei dieser hatte ich mich schon telefonisch angekündigt um ihr mitgeteilt, wann ich zirka bei ihr ankommen würde.

Ich durchfuhr mit meinem Fahrrad einige kleine, romantische Rheindörfchen, das war immer eine besonders schöne Erfahrung.

Wie immer war es ein Traum, wenn sich nach der letzten Kuppe der rheinhessischen Hügellandschaft die Rheinebene vor meinen Augen öffnete und ich Gimbsheim mit dem großen Baum seitlich der Kirche erspähen konnte.

Ich war fast am Ziel!

Die Seele baumeln lassen, sich von Oma verwöhnen zulassen, das war nun angesagt und ich freute mich darauf.

Da ich mit meinem eigenen Fahrrad nach Gimbsheim geradelt war, nutzte ich es, um die Umgebung und auch die anderen Dörfchen zu erkunden.

Bisweilen fuhr ich auch nach Eich, ein kleines Dörfchen, etwa 5 km von Gimbsheim entfernt und ziemlich direkt am Rhein liegend.

Auf dieser Strecke fuhr ich auch an Omas Garten vorbei, der direkt an einen Altrheinarm grenzte.

Auf dem Rückweg nahm ich, auf Omas Wunsch hin, noch allerlei Gemüse und Obst mit, was in diesem kleinen Garten reichlich zu finden war.

In der Mitte des Gartens stand ein alter Kirschbaum.

An diesem lehnte eine hellblaue alte Holzbank.

Oft verweilte ich dort noch einige Zeit und genoss die Stille.

So fuhr ich an einem dieser warmen Sommertage die Landstraße entlang, die zum Nachbardorf Eich führte.

Etwas ziellos war ich unterwegs und es waren nur noch wenige Meter bis zu diesem Dorf.

Ich wollte meine Tante Dina besuchen, das hatte ich mir während der Fahrt nach Eich kurzerhand vorgenommen.

Diese besaß ein winzig kleines Häuschen, es war wohl ein ehemaliges Fischerhäuschen.

Die Räume waren so niedrig, dass ich den Kopf beim Betreten einziehen musste.

Tante Dina war immer außerordentlich gastfreundlich und herzlich. 

Sie freute sich, wenn ich sie besuchte und tischte reichlich auf.

Abhängig von der Tageszeit gab es mittags selbstgebackenen Kuchen mit Milchkaffe oder, wenn es gegen Abend war, eine deftige Brotzeit.

Während ich also nach Eich radelte und gerade das Ortseingangsschild passiert hatte, sah ich einen anderen Jungen ebenfalls auf einem alten, rostigen Fahrrad mir entgegenkommen.


Er kam mir bekannt vor, wir beide fuhren aber aneiander vorbei. Jeder von uns beiden hielt sein Fahrrad an und schaute zurück.

Was eine Überraschung! Wir trauten unseren Augen nicht, als wir uns erkannten!

Es war Veit, ein Klassenkamerad von Mainz und dazu noch ein sehr guter Freund von mir.

Was ein Zufall, da trafen wir beide uns in diesem kleinen Nest.

Keiner von uns beiden wusste vorher, dass es eine gemeinsame Verbindung zu den beiden rheinhessischen Nachbardörfchen gab.

Wir beide haben unsere Ferien jeweils bei unseren Großmüttern verbracht, ohne zu wissen, dass der andere sich ganz in der Nähe aufhielt.

Was eine Fügung!

Natürlich verbrachten wir die restlichen Ferientage miteinander.

Ich weiß noch, dass es eine wunderschöne Zeit war.

Die Ferienzeit bei meiner Großmutter war immer ohnegleichen und ich bin stets mit Freude zu ihr gefahren.

Für meine Großmutter war es allerdings eine große Belastung. 

Dessen war ich mir allerdings damals nicht bewusst.

Diese ruhige und etwas zurückhaltende Frau hat mir nicht nur als kleines Kind, sondern auch später als Jugendlicher viel Kraft und Lebensmut gegeben.


Viele ihrer Ratschläge haben mir das nötige Gespür gegeben, um mein Leben später zu meistern.

Die Landschaft um Gimbsheim, der Duft und das Licht der Rheinauen strahlte für mich eine außergewöhnliche Atmosphäre aus.  

Die Zeiten, in denen ich mich in diesem kleinen Dorf aufhielt, bleiben für mich unvergessen.

Gimbsheim war für mich und meine Schwester Carmen die zweite Heimat.

Wir haben in mancher Hinsicht unsere Kindheit dort verbracht und infolgedessen ist dieses Dorf ein Teil in unserer Seele geworden, eben auch ein Stück Heimat.

Wir beide haben das Dorf, die dort ansässigen Freunde und den Aufenthalt bei unserer Großmutter natürlich unterschiedlich wahrgenommen.

Die einzigartige Atmosphäre dieses Ortes, die grenzenlose Liebenswürdigkeit unserer Oma haben wir beiden Geschwister gemeinsam erlebt und auch ähnlich tief empfunden.

Wir beide verspürten die gleiche besinnliche Faszination, die ständig wie ein feiner Hauch über diesem idyllischen Dörfchen lag.

Es war immer eine gewisse Melancholie in unseren Herzen, wenn wir wieder am Ende unserer Ferien Abschied von unserer Oma nehmen mussten.

Gimbsheim war der Ort, an dem wir beiden Geschwister uns erden konnten.

Oft sind wir beide allein mit der Eisenbahn zu unserer Großmutter gefahren.

Ein typischer Anlass für unsere Anreise war die „Gimbsheimer Kerb“, die in jedem Spätsommer (September) stattfand und ein großes Ereignis für die ganzen Verwandten darstellte.

Wir beiden Geschwister ließen es uns nicht nehmen, einen Tag früher anzureisen. 

Das hatte mehrere Vorteile.

Wir mussten uns nicht in das enge Auto quetschen und ersparten uns die Todesangst, die wir durch die rücksichtslose Raserei unseres Vaters bekamen. 

Außerdem genossen wir den einen Tag der Ruhe ohne unsere Familie.

Der Bahnhof, an dem wir aussteigen mussten, war am Ende des Dorfes Guntersblum, das nicht weit weg von Gimbsheim lag.

Nach Gimbsheim selbst fuhr nur gelegentlich und selten ein Bus.

Deshalb mussten wir den Rest unserer Anreise nach Gimbsheim zu Fuß weitergehen.

Dabei genossen wir es, den ca. 3 km langen Feldweg, entlang der alten stillgelegten Eisenbahngleisen, zu unserer Großmutter zu laufen.

Ab und zu liefen wir auch zwischen den Gleisen, denn es machte uns Spaß, von einer Bahnschwelle zur anderen zu springen oder auf den Gleisen zu balancieren.

Ich vergesse nie, wie uns Oma schon erwartete.

Sofort wurden wir von ihr verpflegt und bewirtet.

Großmutter wollte natürlich viel Familiäres erfahren und wir erzählten miteinander den ganzen Nachmittag.

Wir waren wieder einmal angekommen, an dem Ort, an dem wir unsere Seele baumeln lassen konnten und wo wir wieder zur Ruhe kommen konnten.