Surfen in der Vergangenheit

Wie zarte Fenster in die Vergangenheit lassen Erinnerungen das Licht der Erlebnisse in unsere Seele fließen, während die Zeit unaufhaltsam voranschreitet und die Erinnerungen im Glanz der Unvergänglichkeit erstrahlen lässt.

Gonsenheim, ev. Kirche und Konfirmation

Gonsenheim, ev. Kirche und Konfirmation

 

Meine Eltern hatten sehr genaue Vorstellungen von unserer christlichen, evangelischen Erziehung.

Da schon viele Generationen aus der Familie meines Vaters den Beruf des evangelischen Pfarrers ausgeübt hatten, war es ihm wohl wichtig, dieser Traditionen zu folgen und seine Kinder, entsprechend der protestantischen Ideologie, zu formen.

Meine Mutter war auch eine überaus starrsinnige Protestantin. In der damaligen Zeit war es von Bedeutung, nur Ehepartner der eigenen Konfession zu heiraten. Es war absolut unvorstellbar, mit unterschiedlichen Konfessionen eine Ehe einzugehen und daher auch eher selten.
Wenn ja, wurde so eine Ehe nur katholisch getraut, diesbezüglich war die katholische Kirche sehr dominant.
Ökumenische Ehen gab es damals noch nicht.

In diesem Zeitgeist wurden wir Kinder erzogen. Die Konfessionen waren stark voneinander getrennt und die eigene Konfession stand stets im Mittelpunkt jeder Erziehung.

Andere Konfessionen wurden in der Regel zwar toleriert, aber keinesfalls als Religion gewürdigt. Ja, es gab damals noch eine rivalisierende Feindseligkeit zwischen den beiden großen Konfessionen.

Sowohl in den bürgerlichen Körperschaften, in der Kirche selbst, bei den Geistlichen und auch in der Schule war es gang und gebe, dass sich die unterschiedlichen Konfessionen befehdet und verachtet haben.

Meine Mutter war diesbezüglich zutiefst beeinflusst und hat uns Kindern wiederholt eingeprägt, dass wir auf keinen Fall und unter gar keinen Umständen später einmal ein Partner einer anderen Konfession heiraten dürften.

Wenn überhaupt, dann müssten wir in jedem Fall dafür Sorge tragen, dass unsere Kinder evangelisch getauft würden.

Wir Kinder nahmen schon damals die Worte unserer Mutter nicht allzu ernst!

Hier sei vorausgeschickt, dass natürlich auch alles ganz anders kam.

Also wurden wir Kinder damals in dieser streng protestantischen Familie demgemäß erzogen und mussten deshalb jeden Sonntag in die Kirche zum Kindergottesdienst.

Das gefiel uns absolut nicht. Ich muss sagen, es ging mir sogar sehr auf die Nerven. Ich mochte zwar unseren Pfarrer (Steitz), fand auch die Geschichten von Jesus Christus und die dazugehörigen Gleichnisse recht unterhaltsam, war aber, alles in allem, der Kirche nicht zugetan.

Wir Kinder zogen also sonntags morgens los, um pünktlich zum Gottesdienst in der Kirche zu sein. Unterwegs trafen wir noch andere Kinder, die mit uns gemeinsam dorthin liefen.

In den ersten Jahren in Gonsenheim fand der Kindergottesdienst noch in der richtigen Kirche statt. Die klein dimensionierte Saalkirche mit Westturm wurde in neugotischer Formensprache errichtet. Es war eine schöne, kleine Kirche, die dadurch auffiel, dass sie mitten auf der Straße stand. Denn damals, bei ihrer Errichtung, stand sie noch am Waldrand, umsäumt von einem Park. Erst später wurde die Kaiserstrasse (Breite Straße), die ursprünglich vor dem Park und der Kirche begann, als Verbindungsstraße in die Stadt weitergeführt.


Links und rechts mussten nun die Autos um die Kirche herumfahren.

 Die Kirche selbst war sehr hell und die Empore war ganz in Holz gestaltet. Dort stand auch die Orgel und es war auch noch Platz für uns Kinder, wenn wir mit unserem Flötenspiel die Gemeinde beglückten. Das kam an den Festtagen, wie Ostern und Weihnachten vor.

Die großen Kirchenfenster waren ausgestattet mit Bleiverglasung und jedes der Fenster stellte eine andere sich die Situation von Jesus Christus (Geburt Jesu, Kreuzigung, Auferstehung) dar. Zwei Engel sind in der Kirche zu finden. Der eine hält einen Soldaten im Arm, die Flügel über dem Sterbenden ausgebreitet – eine Gedenktafel an der Rückwand des Kirchenraumes. Der andere Engel weist auf Christus.  Die Soldaten – einer hat sein Schwert noch in der Hand – liegen wie niedergeschlagen am Boden.

Da diese Darstellungen sehr abstrakt gehalten waren, konzentrierte ich mich über den ganzen Zeitraum des Kindergottesdienstes darauf, die Darstellungen zu entzerren und zu erkennen.

Mittendrin, während des Kindergottesdienstes und nach dem gemeinschaftlichen Singen betrat unser Pfarrer die Kanzel, welche nur über eine Wendeltreppe vom Kirchenschiff aus zu besteigen war.

Nun kam der langweilige Teil, nämlich die Predigt, die ich in der Regel nie verstand. Zwar erläuterte der Pfarrer, nachdem er die Predigt gehalten hatte, diese und versuchte sie für uns nochmals zu interpretieren. Mir persönlich war das aber alles viel zu abstrakt und weltfremd. Die Beleuchtungen über die Existenz Gottes und Jesus Christus empfand ich schon als Junge an den Haaren herbeigezogen und ich nahm sie nicht ernst. Ich selbst hatte bereits zu diesem Zeitpunkt, unerkannt von meinem Pfarrer und meinen Eltern, mir meine eigene Glaubensphilosophie zurechtgelegt. Zudem war ich noch mittendrin, hierzu den richtigen Weg zu finden.

Wir Kinder waren angehalten, zu Hause den Eltern den Ablauf des Kindergottesdienstes, einschließlich der Predigt zu erzählen. Das war nicht immer leicht.

Insofern war ich froh, dass am Ausgang der Kirche immer der aktuelle Kirchenbrief auslag. Hier war die momentane Predigt nochmals abgedruckt.

Sowieso benötigte man diesen Kirchenbrief als Bestätigung, dass wir in der Kirche waren. Denn meinen Eltern war sehr wohl bewusst, dass wir Kinder gerne einmal unsere eigenen Wege gegangen sind und die Kirche geschwänzt hatten.

Derweil hatten wir mit anderen Kindern gespielt, erzählt oder noch Hausaufgaben gemacht.

Schnell, bevor der Gottesdienst zu Ende war, schlichen wir uns in die Kirche und holten uns noch den Kirchenbrief.

Ich erinnere mich noch genau, dass ich mich einmal sehr wagemutig und neugierig in die Kirche der anderen Konfession gewagt hatte. Ich hatte das Gefühl und die Befürchtung, dass man mich schnell enttarnen könnte und mit Schimpf und Schande verjagen würde.

Mir persönlich war es sowieso egal, welcher Konfession meine Freunde angehörten. Ich mochte das auch nicht von meiner Mutter hören und empfand ihre Aversion gegen die anderen Konfessionen als übertrieben.

Meinen Freunden ging es im Übrigen genauso. Wir wollten diese Trennung der Konfessionen nicht, sie war lästig. Das erkannten damals schon wir Kinder.

Völlig unverständlich war für uns, dass wir tlw. in unterschiedliche Schulen kamen und auch zum Religionsunterricht getrennt wurden.

In mancher Hinsicht wurde diese Trennung auf die Spitze getrieben, wenn mit einer großen weißen Linie im Schulhof die Konfessionen zugeordnet wurden. Darüber hinaus waren auch noch die Mädchen und die Jungs getrennt und die kleinen Schüler von den großen. Das reine Schulhofchaos!

Auf der einen Seite waren die Protestanten und auf der anderen Seite die Katholiken.

So kam es, dass wir uns sogar gegenseitig bekämpften und beschimpften.

Da ich nach der Grundschule (damals Volksschule) in ein humanistisches Gymnasium kam, waren dort die Unterrichtsformen völlig anders geartet und wir Jugendliche begannen, die Dinge zu differenzieren.

Wir erhielten einen, vergleichsweise, aufgeklärten Unterricht.

Deshalb fiel es mir sehr schwer, mich dem notwendigen, konservativen Konfirmandenunterricht zu unterziehen.

Ich war 14 und durchaus nicht bereit, mich den Doktrinen der Kirche zu unterwerfen.

Aber was blieb mir übrig?

Es war ein gesellschaftliches Muss konfirmiert zu werden, denn nur so gehörte man zur christlichen Gemeinschaft. Für meine Eltern ein unvorstellbares Szenario, wenn ich mich der Konfirmation verweigert hätte.

Außerdem winkten großartige Geschenke von der Verwandtschaft. Das war gebräuchlich bei einer Konfirmation. Die Konfirmation wurde mit einem großen Fest gefeiert und alle Verwandten wurden eingeladen.

Der Konfirmandenunterricht fand wöchentlich statt. Er war mir persönlich so unangenehm, dass ich ihn nur sehr selten besuchte.

Natürlich war es notwendig, gewisse feierliche Abläufe, die für die Konfirmation notwendig waren, vorher kennen zu lernen.

Das Abendmahl war mir persönlich sehr suspekt, da vor dem Altar ein Kelch mit Wein gereicht wurde und jedes der Gemeindemitglieder daraus trank. Der Kelch mit Jesus Blut!

Mir war das fragwürdig, weil jeder aus dem gleichen Kelch trank und das ekelte mich sehr.

Außerdem musste ich an der kirchlichen Konfirmationsfeier etwas vortragen. Einen Psalm, einen Bibeltext oder ein Gedicht. Das konnte ich mir aussuchen und so entschied mich für ein sehr kurzes Gedicht.

Auch stellte mir der Pfarrer während der Konfirmationsfeier und unter den Augen der aufmerksamen Gläubigen eine Wissensfrage.

Ich weiß heute nicht mehr, um welche Frage es sich gehandelt hatte.

Ich weiß nur, dass der Pfarrer mir die Frage im Vorfeld verraten hatte, damit ich mich darauf vorbereiten konnte. So blieb mir und auch ihm eine Blamage vor der Kirchengemeinde erspart.

Das muss ich unserem Pfarrer zugutehalten. Er war sehr warmherzig und hatte sehr viel Verständnis für uns jungen Leute. Ich erinnere mich gerne an ihn.
Er war indes auch ein Freund meines Vaters. Er kannte ihn noch aus den Zeiten vor dem 2. Weltkrieg in Darmstadt. Dort war er wohl schon als junger Lehrer auf dem Gymnasium meines Vaters tätig. Beide haben sich per Zufall in Gonsenheim wiedergetroffen.

Wir waren längst in der Pubertät und die Anzeichen der Achtundsechziger Umbrüche waren schon überall zu spüren.

Nachdem die Konfirmation in der Kirche beendet war, gingen alle Konfirmanden gemeinsam mit ihren Familien nach Hause, um das Fest gebührlich zu feiern.

Zur Konfirmation hatte ich einen grauen und eleganten Anzug bekommen. Von meiner Großmutter hatte ich bereits im Vorfeld ein kleines Gesangbuch erhalten. Es war ihr Geschenk zur Konfirmation. Sie übergab es mir absichtlich vor der Konfirmation, damit ich es während der Feierlichkeit bereits in den Händen halten konnte. Sie hat eine kleine Widmung hineingeschrieben und ich liebte dieses kleine Gesangbuch deshalb sehr.

Zuhause angekommen wurde ich zunächst mal beschenkt. Alle Verwandten gratulierten mir und übergaben mir andächtig ihr Geschenk.

Zum größten Teil erinnere ich mich noch an die Geschenke. Da ich sehr naturverbunden war und Biologie mein damaliges Steckenpferd war, hatte mir meine Tante Hella zusammen mit dem Onkel Franz „Brehms Tierleben“ geschenkt. Das war ein riesiger Wälzer und ein wirklich großer Gewinn für mich. Oft las ich stundenlang in diesem Tierbuch und eignete mir dort sehr viel Kenntnisse an. Es war die ideale Ergänzung zu meinem kleinen Mikroskop, welches ich speziell zur Erforschung der heimischen Insekten und der Pantoffeltierchen benötigte.

Von den restlichen Verwandten bekam ich goldene Manschettenknöpfe, eine goldene Krawattennadel und einen goldenen Ring.

Auch Geldgeschenke waren dabei. Diese waren verschlossen in einem Umschlag und wurden von meiner Mutter umgehend beschlagnahmt.

Sie hatte ein Sparbuch für mich angelegt und zahlte das Geld darauf ein. Das war zwar gegen meine eigene Vorstellung. Ich hätte das Geld gerne gleich ausgegeben, aber diesbezüglich hatte ich nichts zu melden.

Das große Konfirmationsgeschenk meiner Eltern war ein Fahrrad. Es war ein Jugendfahrrad. Ich erinnere mich noch genau. Es hatte eine Torpedo Dreigangschaltung, war blau und hatte zusätzlich noch eine Sturmklingel. Das war mit Abstand das hervorragendste Geschenk für mich und ich freute mich mächtig darauf, es einzuweihen.

Zum großen Grauen meiner Mutter war ich auch sofort mit dem Fahrrad unterwegs, um es einzuweihen. Ich dabei vergessen, mich entsprechend umzuziehen und hatte deshalb noch den guten Konfirmationsanzug an. Es ist aber nichts passiert, außer ein paar Spritzer an den Hosenbeinen. Meine arme Mutter hatte große Ängste ausgestanden, bis ich wieder da war und war heilfroh, dass der Anzug noch nahezu unversehrt war.

Zwischenzeitlich, nachdem sich die ganze Familie wieder im Hause versammelt hatte, fingen die Frauen an, in der Küche die Vorbereitungen für das Festmahl zu treffen.

Meiner Mutter war das sehr unangenehm, denn die Damen öffneten sämtlichen Küchenschränke, um die entsprechenden Töpfe, Pfannen, Geschirr und Besteck zu finden. Da meine Mutter sehr lässig den Haushalt führte und deshalb die Küche auch nicht picobello sauber war, war ihr dieses unerbetene Engagement sehr unangenehm.

Aber, das Chaos war an diesem Tag wirklich sehr groß, meine Mutter hätte das nicht allein geschafft!

Die Männer hatten sich alle im Wohnzimmer versammelt, Zigaretten und Pfeifen angezündet, sich Wein eingeschenkt und waren laut am Diskutieren.

Es ging immer um Politik.

In der Zwischenzeit haben wir Kinder die Tische eingedeckt, die Stühle zu den Tischen gestellt und den Verwandten erklärt, wo sie sitzen.

Meine Eltern haben stets versucht, die Verwandtschaft passend zueinander zu setzen.

Das war auch wichtig, weil die Persönlichkeiten sehr unterschiedlich waren.

Meiner Meinung nach war diese Verwandtschaft eine vorbildliche Gemeinschaft. Meine Verwandten waren gewohnt, ein paarmal im Jahr zusammenzukommen und es herrschte immer ein freundlicher Ton.
Ich will an dieser Stelle erwähnen, dass ich fast ausschließlich die Verwandten mütterlicherseits kannte, es gab nur sehr wenige, die den Krieg und den Bombenangriff auf Darmstadt überlebt hatten.
Erinnern kann ich mich nur an eine Tante (Luise) und deren Gatte (Christian Wagner). Ein paar sehr alte Tanten, die noch in Darmstadt wohnten, sind mir ganz schwach in Erinnerung.

Alles in allem habe ich meine Konfirmation und meine Beziehung zur Kirche, insbesondere zu unserem Pfarrer Steitz in sehr guter Erinnerung.

Das, obwohl ich eine völlig konträre Meinung zu Kirche und Konfession hatte.