Ach, die unvergesslichen Nächte unter der Bettdecke, eingekuschelt mit der
Taschenlampe in der Hand, und all den Geschichten von Tom Sawyer und Huck Finn!
Diese beiden Freunde, die als Waisenjungen ihre Abenteuer an den Ufern des
Mississippi erlebten, öffneten mir eine Tür in eine andere Welt, voller
Freiheit, Geheimnisse und mutiger Streiche. Die Sehnsucht nach ähnlichen
Abenteuern packte mich, und ich konnte den Fluss beinahe riechen, die Hitze
spüren und die Stimmen der beiden hören, als wären sie meine eigenen Freunde.
Mit jedem Umblättern der Seite nahm meine Fantasie Fahrt
auf. Da waren die heimlichen Streifzüge der beiden, wie sie sich an Bord eines
Schaufelraddampfers schlichen, in der Hoffnung, einen Schatz zu finden. Huck,
der irgendwo an einem stillen Ort in seiner alten Tonne hauste, wo niemand nach
ihm fragte – was für eine Freiheit! Und Tom, der viel lieber bei Huck sein
wollte als in der Schule, und sogar den Mut hatte, ihm mit einer toten Katze
und seltsamen Zaubersprüchen bei seiner Warze zu helfen. Solche witzigen und
kuriosen Momente fühlten sich an wie kleine, verbotene Schätze, die ich hüten
wollte.
Die Floßfahrt auf dem mächtigen Fluss war das Größte. In meinen Gedanken wurde sie wild und gewaltig, so echt, als wäre ich selbst dabei. Da gab es keine Bildschirme, keine Kinos, keine Computer – nur das Buch in meinen Händen und die bunte Welt, die es in meinem Kopf erschuf.
Und da war noch Karl May. Zu meinem neunten Geburtstag schenkte mir meine große Schwester Carmen das Taschenbuch „Unter Geiern“. Es war ein Schatz, ein Tor zu einer Welt, die ich nur aus Erzählungen kannte, und doch war sie plötzlich so greifbar nah. Ich war zu dieser Zeit bei meiner Oma in Gimbsheim, und das Beste daran? Abends durfte ich so lange lesen, wie ich wollte.
Das Ehebett, in dem ich bei Oma schlief, hatte eine
besondere Geschichte: Es war das Bett, in dem einst mein verstorbener Opa
gelegen hatte, und nun schlief ich auf seiner Seite. Über dem Bett hing eine
tief angebrachte Lampe mit einer langen Kordel, die bis zur Bettdecke reichte.
Mit einem sanften Zug konnte ich das warme, funzelige Licht an- und ausschalten
– gerade hell genug, um die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand zu
lesen.
Die Worte von Karl May ließen die Prärie vor meinen Augen
entstehen: die Hitze, die endlose Weite, der trockene Wind. Als der
Wassermangel in der Geschichte unerträglich wurde, sprang ich auf, holte mir
ein Glas frisches Leitungswasser und trank es, als sei ich selbst durch die
Wüste gestreift. Und wenn die Helden gedörrtes Fleisch aus ihren Satteltaschen
zogen, schlich ich mich in die Küche, schnitt mir ein Stück von Omas Vorräten
ab und kaute mit halbgeschlossenen Augen, um das Gefühl der Wildnis ganz auszukosten.
Es war, als verwischten die Grenzen zwischen Buch und Wirklichkeit.
Dann war da noch Hans Hass, der Meeresabenteurer, dessen
Geschichten mir das Herz in der Brust hüpfen ließen. Wenn er die Begegnungen
mit Haien beschrieb, hielt ich den Atem an, fühlte die Gefahr, die tief unter
dem Ozean lauerte, und doch verspürte ich eine wilde Freude, die Welt aus
seinen Augen zu sehen.
Diese Bücher, all die Abenteuer und fremden Welten – sie
prägten mich, sie ließen meinen kleinen Bubenherzen schneller schlagen und
brachten ein Kribbeln in meine Seele, das ich niemals vergessen werde.