Jedes Jahr im September war es soweit!
Wir Kinder freuten uns schon darauf, denn es war ein großes Ereignis, wenn wir zu unseren Großeltern nach Gimbsheim fuhren, um dort das bekannte Volksfest die „Gimbsheimer Kerb“ zu besuchen.
Es war nicht allein dieses kleine Ortsfest, nein, es war die Begegnung mit der ganzen Familie, mit vielen Verwandten und mit vielen Freunden.
Meine Schwester und ich durften schon, weil wir schon etwas älter waren, einen Tag vorher zu unserer Großmutter fahren. Das war auch schon ein Erlebnis, denn wir fuhren zunächst mit der Straßenbahn nach Mainz zum Hauptbahnhof.
Das letzte Gleis, Gleis sechs, von diesem Gleis aus ging der Zug in Richtung Worms. Wir selbst mussten in Guntersblum, einem kleinen Rheinhessen-Dörfchen aussteigen.
Die Fahrt mit dem Zug war für uns Kinder spannend, denn nachdem der Zug den Südtunnel von Mainz passiert hatte, öffnete sich die Weite der Rheinlandschaft. Der Zug fuhr nun durch viele kleine Ortschaften entlang des Rheines auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Weinberg.
So war die Fahrt sehr kurzweilig und schnell waren wir beiden Kinder in Guntersblum angekommen.
Dort liefen wir ein Stück die Landstraße entlang, um dann in
einen Feldweg abzubiegen.
Dieser führte durch die Fluren und Obstfelde,r entlang einer stillgelegten Eisenbahnstrecke nach Gimbsheim.
Es war immer eine besondere Stimmung, wenn wir beide Geschwister diese Strecke zu Fuß in den Heimatort unserer Großeltern gingen. Es war uns alles sehr vertraut, denn meine Großmutter hatte auf diesem Abschnitt einen kleinen Acker, den sie noch pflegte.
Auf diesem standen Kirschbäume und in der Zeit der Kirschernte waren wir Kinder auch immer dabei.
Infolgedessen kannten wir den Weg und die Landschaft. Wir genossen es, bei diesen warmen und sonnigen Septembertagen, die 3 km lange Strecke zu unserer Großmutter zu laufen.
Dort angekommen, mussten wir sofort zu Hause anrufen, um das gute Eintreffen bei unseren Großeltern zu übermitteln.
Für dieses kleine Ortsfest hatten meine Großeltern schon große Vorbereitungen getroffen.
So hatte mein Großvater längst für die deftigen Speisen gesorgt, d. h., es standen genug Wurst und Fleischwaren zur Verfügung.
Meine Großmutter hatte auf großen Kuchenblechen Kuchen zum Backen vorbereitet.
Diese Bleche wurden zum Bäcker befördert, um dann dort in einem großen Steinofen gebacken zu werden. Im Allgemeinen hatte meine Großmutter Streuselkuchen gerichtet, aber auch ein leckerer Marmorkuchen mit Schokoladenguss war immer mit dabei.
Mit meiner Schwester holte ich den Kuchen vom Bäcker ab. Dort standen in einem großen Holzregal zahlreiche Streuselkuchen, denn nicht nur meine Großmutter, sondern auch die anderen Frauen des Ortes haben ihre Kuchen zum fertig backen abgegeben.
Wir erkannten unsere Kuchen anhand eines kleinen Zettels, auf dem der Name unserer Großmutter stand. Der Zettel war zusammengerollt in den Teig des Kuchens eingepresst worden.
Bis der Bäcker uns den Kuchen übergeben konnte, erhaschten wie Kinder blitzschnell einige schöne dicke Streusel der anderen Kuchen.
Der Streuselkuchen bezeichnete man in dem Rheinhessischen Dorf „Ribbelkuchen“ und die Streusel selbst waren deshalb die „Ribbeln“.
Wir Kinder zogen schon morgens durch die Straßen, die flankiert waren von den Holzwägen der Schausteller, Schießbuden und Verkaufswagen von Süßigkeiten.
Sie reithen sich alle links und rechts der Straße aneinander. Für uns Kinder war es immer reizvoll, welche Verkaufswagen sich darboten.
Süßigkeiten, Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, Spielsachen, Luftballons, Mohrenköpfe und Marzipan, Schiffschaukel, Sahneeis aus dem Topf mit einer Kelle auf eine Waffel geschmiert, Vogelgezwitscher, Seifenblasen, Reitschule, Kettenkarussell, Autoscooter und letztendlich auch die Marktschreier, welche weiße Porzellanfiguren laut johlend anboten, dann in Zeitungspapier einschlugen und dem Käufer zuwarfen.
Einen sogenannten Festplatz gab es damals noch nicht.
Alle Stände waren entlang der Straße aufgebaut und man bummelte gemütlich durch die Angebote, die links und rechts uns Kinder verführten.
Für die Unterhaltung der Erwachsenen waren die Gaststätten geöffnet. Abends war dort Tanz und ich weiß, dass meine Eltern gerne noch dorthin gegangen sind.
Nachdem wir Kinder unseren ersten Durchgang beendet hatten und wieder zu Hause waren, warteten wir immerzu auf unsere übrigen Verwandten. Das hatte einen besonderen Grund!
Wir Kinder wurden von unseren Verwandten in der Regel mit einem kleinen, sogenannten Kerbe- Geld begrüßt. Das war für uns Kinder äußerst wichtig, denn es war die Basis, um sich später die Schiffsschaukel, ein paar Süßigkeiten und eventuell noch Spielsachen kaufen zu können.
Nun zeigte sich auch, wie begütert ein Verwandter war. Unser Onkel Hans (Kasseler Hans), war Unternehmer und auch entsprechend vermögend. Entsprechend groß fiel auch das Kerbe- Geld aus.
Er war nicht geizig und ich bin heute noch davon überzeugt, dass er uns Kindern es gerne und von Herzen gegeben hat, jedenfalls nicht, um anzugeben.
Einziger Nachteil bei der Sache war, dass er das Geld, bestehend aus einem Schein, immer meiner älteren Schwester gab, die er nun beauftragte, das Geld unter uns Geschwistern gerecht zu verteilen.
Für mich war das eine nachteilige Sache, denn nun war ich abhängig von meiner Schwester und musste um jeden Pfennig bei ihr betteln. So autoritär, wie sie nun mal war, entschied sie recht energisch über diese Summe.
Anders war es bei meiner Tante, der Schwester meiner Mutter. Sie gab uns allen Kindern den gleichen Betrag, den sie bereits Zuhause für uns abgezählt hatte.
Auf jeden Fall kam schon eine kleine, sehr akzeptable Summe zusammen. Nachdem uns alle Verwandten begrüßt hatten und wir von jedem eine Kleinigkeit bekommen hatten, war unser Portemonnaie gut gefüllt.
Offiziell öffnete die Kerb, d. h. die Schausteller, um 13:00 Uhr. Also, kurz nach dem Mittagessen stürzten wir Kinder nach draußen und waren bis 16:00 Uhr auf der Kerb beschäftigt.
Zwischenzeitlich machte mein Vater und mein Onkel ein Mittagsschläfchen. Das konnten sie nun in Ruhe tun, denn das Kindergetöse war nun unterwegs.
Meine Großmutter, meine Mutter und meine Tante empfanden es als sehr beglückend, endlich einmal wieder miteinander zu erzählen. Oftmals sind auch noch andere Frauen dazu gekommen, um sich an den Plaudereien zu beteiligen. Es tat den Frauen sehr gut, sich einmal wieder austauschen zu können. Unterdessen wurde der Kaffeetisch vorbereitet und auch die ersten Vorbereitungen für das gemeinsame Abendessen durchgeführt.
Um 16:00 Uhr war es soweit. Im Wohnzimmer meiner Großmutter wurde der große Tisch ausgezogen. Es wurden Stühle geschleppt. Der Tisch wurde eingedeckt. An den beiden Stirnseiten wurden komfortable Stühle gestellt. Man wusste ja, dass dort die Familienoberhäupter sitzen würden. Damals war das noch so. Heute undenkbar!
Nach und nach trudelten unsere Verwandten ein. Natürlich kam auch Onkel Hans und selbstverständlich nahm er einen Stirnplatz.
Für uns Kinder war es sehr schön, die vielen Verwandten an einem Platz zusammen zu sehen.
Das gab es eben nur einmal im Jahr und es prägte mich noch für viele Jahre.
Noch heute ist mir der Geruch der gewachsten Möbel in der Nase, der Duft des frischen Kaffees und der himmlische Kuchen. Vier Sorten sind mir auf jeden Fall noch im Gedächtnis: Bienenstich, Käsekuchen, Streuselkuchen und Marmorkuchen mit dickem Schokoladenguss.
Uns Kindern wurde Caro Kaffee eingegossen, den wir mit viel Milch aus großen, schweren Tassen schlürften.
Wenn meinem Großvater der Kaffee zu heiß war, schüttete er ihn um in die
Untertasse und wieder zurück in die Tasse. Ab und zu trank er ihn mit lautem
Schlürfen direkt auch aus der Untertasse.
Viele meiner Verwandten tunkten den Kuchen, damit er nicht zu trocken war, in den Kaffee.
Ich fand das sehr lustig und machte das natürlich nach. Das war sehr lecker.
Es wurde viel erzählt und gelacht. Nach einer Weile, also nach dem Kaffee machten sich alle auf, um noch mal über die Kerb zu laufen.
Für uns Kinder war das noch einmal eine Gelegenheit, um zusätzlich noch etwas von unseren Eltern gekauft zu bekommen. In der Regel war das auch möglich und die Stimmung war sehr gut.
Jeder freute sich auf den Abend, denn dann traf sich die ganze Verwandtschaft nochmals zum großen Abendmahl. Dies bestand in der Regel darin, dass es „rohgeröstete“ Kartoffeln von meinem Opa gab, dazu wurden Bratwürste gebraten und es gab noch einen großen Endiviensalat dazu.
Zur fortgeschrittenen Stunde tranken die Männer noch ein paar Schnäpse und die jüngeren der Erwachsenen gingen noch mal zum Tanz.
Die Gimbsheimer Kerb war in unserer Zeit ein wichtiges und zentrales Familienfest. Ich werde es nie vergessen, es hat mich tief geprägt und ich werde die lieben Verwandten auch immer in meiner Erinnerung behalten.